"EU-Forschung geht nicht ohne Krisenforschung"
Seit zehn Jahren eint Europa vor allem eines: der Krisenzustand. In ihrem aktuellen Hertha Firnberg-Projekt untersucht Medienexpertin Olga Eisele an der Universität Wien das Zusammenspiel von Politik und Medien im "Drahtseilakt" EU-Krisenmanagement.
Finanzkrise,
EU-Mitgliedsstaaten verletzen die Rechtsstaatlichkeitsprinzipien und
knapp 52 Prozent der britischen Bevölkerung stimmten im Juni 2016 für
den Brexit. Die EU steckt in der Krise – und das seit mehreren Jahren.
Wie Konflikte seitens der Politik kommuniziert werden und welchen Anteil
die Medien am anhaltenden Krisenimage der EU haben, untersucht
Kommunikationswissenschafterin Olga Eisele in ihrem aktuellen Hertha
Firnberg-Projekt "Drahtseilakt EU-Krisenmanagement".
"Konkret
geht es darum, wie die Exekutiven Krisenmanagement betreiben und wie
dieses in den Medien bewertet wird", erklärt Eisele. Für ihre
Untersuchung zieht die Forscherin vier Länder heran – Irland,
Großbritannien, Deutschland und Österreich. "Diese Staaten haben die
Krisen unterschiedlich erlebt und sind anders damit umgegangen: Irland
hat am meisten gelitten, Deutschland hat viele Geflüchtete aufgenommen,
Österreich war eher Transitland und Großbritannien stellt mit dem
EU-Austritt die Union gänzlich in Frage."
Zurück zum Krisenanfang
Eisele
geht mit ihrem Forschungsprojekt an den Beginn der EU-Krise zurück:
"Nehmen wir an, dass die Krise mit der internationalen Finanzkrise
begann, dann hält sie bereits seit zehn Jahren an." Für ihr Projekt
analysiert die Wissenschafterin Pressemitteilungen der staatlichen
Zentralen im Zeitraum von 2009 bis 2018 sowie die
Medienberichterstattung der jeweils drei größten Zeitungen des Landes –
im Falle Österreichs sind das die "Kronen Zeitung", "Die Presse" und
"Der Standard".
"Es wird eine wahnsinnig große Arbeit", gesteht
Eisele ein, doch dafür ist sie gewappnet. Seit Oktober 2018 erweitert
sie ihr methodologisches Profil am interdisziplinären Computational Communication Science Lab
der Universität Wien und wird die Daten computergestützt erheben und
auswerten. Eisele ist noch am Anfang ihres Projekts, doch die Sichtung
des Materials zeigt schon jetzt: "Es scheint für die letzten zehn Jahre
wenig neutrale Berichterstattung über die EU zu geben."
Darf ich bitten?
Der
englische Titel des Projekts lautet übrigens "Tango on a Tightrope".
Was es damit auf sich hat, erklärt Eisele: Der US-amerikanische
Soziologe Herbert J. Gans hat Ende der 1970er Jahre die Metapher des
Tangos verwendet, um das Spannungsverhältnis zwischen den Medien und der
Politik zu beschreiben. Die Politik braucht die Medien und umgekehrt.
Wie bei einem intimen Tanz, wird ständig ausverhandelt, wer führen darf
und den Ton angibt. "Politische Kommunikation ist ohne Massenmedien
nicht vorstellbar. Doch Medien transportieren Inhalte nicht nur, sondern
sie filtern diese aktiv und stellen die Dinge gerne konfliktuöser dar",
so die Hertha Firnberg-Stipendiatin.
2010 war Eisele für die Vertretung der Europäischen Kommission in Berlin
tätig. Stationiert unweit des Brandenburger Tors, erinnert sie sich an
die vielen Beschwerden der BürgerInnen zurück: "Es war der Höhepunkt der
Krise, und die EU-Sterne am Eingang haben bei den Menschen etwas
ausgelöst. Wir mussten viel Aufklärungsarbeit leisten, die Menschen
konnten sich einfach wenig unter der praktischen Arbeit der EU
vorstellen."
Diesen Eindruck konnte die Forscherin später im Rahmen des FWF-Projekts Parliamentary Communication of Europe (PACE)
am Institut für Höhere Studien in Wien untermauern. Eingebunden in ein
Forschungsteam untersuchte sie, wie nationale Parlamente über
EU-Angelegenheiten kommunizieren. "Der Öffentlichkeit ist nicht klar,
was die EU macht. Die Bevölkerung weiß, dass es Krisen gibt, kann deren
Konsequenzen aber nicht einschätzen und ist verunsichert. Wenn nationale
Parlamente EU-Themen stärker auf die Agenda nähmen, wäre die Chance
eventuell größer, dass sie in der Bevölkerung ankommen. Aktive
Parlamente tauchen auch eher in den Medien auf und haben mehr
Möglichkeiten, die BürgerInnen zu erreichen", fasst Eisele die
Forschungsergebnisse zusammen.
Einen Schritt nach vorne
Eines
steht fest: EU-Forschung geht nicht ohne Krisenforschung. In einer
Zeit, in der die Spaltung der EU diskutiert wird, kommt die aktuelle Semesterfrage "Was eint Europa?"
der Uni Wien gerade richtig, findet Eisele. Für sie eint die EU der
Versuch, alte Feindschaften zu überwinden, indem wirtschaftliche
Interessen in den Vordergrund gerückt wurden. "Wir profitieren alle
davon – das steht für mich fest. Doch wir sind nun schon länger an einem
Punkt, an dem es einen großen Schritt nach vorne braucht, ansonsten
geht die politische Idee Europa nicht auf." (hm)