Schreiberhände lesen
Leben und Handeln entlang der
spätantiken Seidenstraße – davon erzählen Textfragmente, verteilt auf
Sammlungen in der ganzen Welt. In seinem aktuellen START-Projekt bündelt
Sprachwissenschafter Hannes A. Fellner die Bruchstücke digital und
bestimmt so die "Schreiberhände von damals".
Mit
der Karawane von Oasenstadt zu Oasenstadt: Entlang der Seidenstraße gab
es schon 2.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung florierenden Fernhandel.
Die Ost-West-Route verband das heutige China über Zentralasien mit
Südostasien, dem Nahen Osten und Europa. Getauscht wurden nicht nur
Stoffe, Bronze oder Gewürze, sondern auch Kulturtechniken und Ideen,
erklärt Sprachwissenschafter Hannes A. Fellner, der sich im Rahmen
seines aktuellen START-Projekts an der Universität Wien mit der
Seidenstraße beschäftigt.
Sein Spezialgebiet ist das
Tocharische, ein ausgestorbener indogermanischer Sprachzweig, dessen
Spuren heute überwiegend in der autonomen Region Xinjiang im
nordwestlichen China zu finden sind. Tocharisch war gemeinsam mit dem
altindischen Sanskrit und dem ostiranischen Khotansakisch die
bedeutendste Sprache der alten östlichen Seidenstraße und hat sich in
den ersten Jahrhunderten nach unserer Zeitrechnung vom buddhistischen
Königreich Kucha aus im zentralasiatischen Tarimbecken verbreitet – so
Fellners "Out of Kucha-Hypothese".
Buddhismus schreiben
Mit
zunehmenden Reichtum aus Handelsgeschäften entwickelten sich
buddhistische Klöster und prunkvolle Gebetsstätten in der Region.
Ähnlich wie die mittelalterlichen Klöster in Europa waren die
buddhistischen Gemeinden Ausgangspunkt der Schriftkultur. "Die
ursprünglich in Indien kreierte Brahmi-Schrift wurde in einer Variante,
die wir Tarim-Brahmi nennen, an der östlichen Seidenstraße für Sanskrit,
Tocharisch und Khotansakisch adaptiert und auf chinesischem Papier
geschrieben. Die frühen Textzeugnisse aus Xinjiang gehören zu den
ältesten uns bekannten Manuskripten des Buddhismus", weiß Fellner.
Rund zwei Drittel der vorhandenen
Manuskripte in Tarim-Brahmi sind buddhistische Texte, doch auch
wissenschaftliche Abhandlungen, Briefe und Liebesgedichte sowie
Schriften zur Medizin oder Ökonomie erzählen vom Leben entlang der
Seidenstraße: "Wir verfügen zum Beispiel über sogenannte Karawanenpässe,
die Händler auf ihren Reisen vor überhöhten Einfuhrzöllen oder
Überfällen schützen sollten, und haben relativ detaillierte Listen,
welche Güter transportiert wurden – diese Texte zählen zu den ältesten
direkten Zeugnissen von Handel auf der Seidenstraße".
Textfragmente im Wüstensand
Im
Tarimgebiet erstreckt sich, eingeschlossen von Gebirgsketten, eine der
trockensten Wüsten der Welt – perfekte Bedingungen für die Konservierung
der alten Schriften. Dennoch sind Texte in Tarim-Brahmi nur noch
fragmentarisch erhalten. "Als strategisch wichtige Region war das
heutige Xinjiang schon immer umkämpft, allein im siebten Jahrhundert
wurde die Region von vier verschiedenen Großreichen dominiert. Durch den
ständigen Machtwechsel konnten die Bibliotheken nicht überleben",
erklärt der Sprachwissenschafter. Jahrhunderte später war die Region von
Plünderungen durch die Kolonialmächte betroffen. Verschiedene Nationen
gruben an denselben Orten aus, sodass die Manuskripte heute
bruchstückartig auf mehrere Sammlungen verteilt sind.
Digitales Verzeichnis für Tarim Brahmi
Die
gute Nachricht: Nahezu alle Schriftstücke aus dem Tarimbecken sind
mittlerweile digitalisiert. Die schlechte: Sie sind nicht systematisch
aufgearbeitet. Hannes A. Fellner möchte Abhilfe schaffen. Ziel seines
START-Projekts ist es, die vorhandenen Sanskrit-, Tocharisch- und
Khotansakisch-Manuskripte – zwischen 80.000 und 100.000 Fragmente – in
einer Online-Datenbank zugänglich zu machen und für weitere
Untersuchungen zu bündeln.
Das digitale Verzeichnis ist aber nur
der "Unterbau" für seine eigentliche Forschung, nämlich die umfassende
Analyse der Tarim-Brahmi-Schrift. Wer was wann, wo und wie geschrieben
hat, sind die klassischen Fragen der Paläografie, konnten aber für das
Tarimbecken in der Spätantike bisher nur ansatzweise beantwortet werden.
"In der Datenbank werden die Texte mit Fotografien verknüpft, sodass
einzelne Zeichen, Zeichenkombinationen oder Wörter computergestützt
herausgelesen werden können", freut sich Fellner und leistet damit
Pionierarbeit: "Erstmals wird es möglich sein, Schreiberhände zu
bestimmen und regionale bzw. zeitliche Varianten auszumachen."
Verschiedene Orte, verschiedene Varianten
Das
Tocharische und das Khotansakische sind wie das Deutsche durch mehrere
Entwicklungsstufen gegangen. Eine große Frage ist nach wie vor, ob und
wie die unterschiedlichen Schreibschulen geographisch mit den
verschiedenen Varianten dieser Sprachen korrelierten: "Es gab keine
einheitlichen Hochsprachen. Wir wissen von Orten, an denen 'archaischer'
gesprochen bzw. geschrieben wurde als an anderen." Ein Grund dafür ist,
dass die Oasenstädte teilweise hunderte Kilometer voneinander getrennt
und geographisch von Wüste geprägt waren. Sprachkontakt bzw. Interaktion
von Schreibschulen fand nur vereinzelt statt. "Man kann sich das in die
Jetzt-Zeit übersetzt so vorstellen, als hätten wir regionale Varianten
von unserem heutigen Deutsch, die mit karolingischen Minuskeln
geschrieben werden", veranschaulicht Fellner schmunzelnd.
Die
tocharische Sprache wurde erst vor rund 100 Jahren entdeckt. Die vielen
offenen Fragen und Rätsel, die es noch zu lösen gilt, haben Hannes A.
Fellner schon immer gereizt. Unter anderem sein Verdienst ist es, dass
die am wenigsten erforschte indogermanische Sprache bald am besten
digital zugänglich sein wird. (hm)